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Lutz Seiler:
Zungenabgabe
Es war der 18. September, Vollmond und Wahltag zugleich. Vor
allem war es das Kreisen der kleinen Propellermaschine, die
meinen Schädel umfing, der nahegelegene Flugplatz. Dazu die
Müdigkeit in den Augen, das Nachlassen im Blick, nicht schlimm.
Schlimm war nur, dass ich meine Zunge imMund zu schmecken
begann. Wahrscheinlich wieder zu viel geredet, dachte ich, zu viel
gesprochen wieder beim Schreiben, jede Zeile, tausendfach, anders
vermochte ich es eben nicht. Zwischen zwei Kiefern tauchte der
gute alte Medizinmann auf. Er berührte meine Stirn und sagte...
Es war indianisch. Meine Zunge lockerte sich. Mit zwei Fingern
zog ich sie vorsichtig ans Licht. Draußen war es ein viel größeres
Stück Fleisch als im Mund und auch nicht so zart wie gedacht.
"Die Zunge ist das Beste", hatte meine Mutter mir einmal beim
Schlachtfest zugerufen. Der Indianer nickte nur ein wenig, als er
sie entgegennahm. Ich sah ihm zu und beruhigte mich. Ich staunte
darüber, wie gut der hohle Raum sich machte in meinem Schädel,
wie rasch er sich füllte, gleich von den Stimmbändern her. Wir
schrieben den 18. September, Vollmond und Wahltag zugleich.
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