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Jetzt hört Alle, Alle zu. Heute ist Dinstag. Sonntag kam die Sonne von Weimar: Goethe an. [...] Er war im Garten und kam eben um eine Ecke herum; ist dies nicht sonderbar, lieber Vater, ebenso ging es auch Dir. Er ist sehr freundlich, doch alle Bildnisse von ihm finde ich nicht ähnlich. Er sah sich seine Sammlung von Versteinerungen an welche der Sohn geordnet und sagte immer: "Hm! Hm! ich bin recht zufrieden." Nachher ging ich noch eine halbe Stunde im Garten mit ihm und Professor Zelter. Dann zu Tisch. Man hält ihn nicht für einen Dreiundsiebziger, sondern für einen Funfziger. Nach Tisch bat sich Fräulein Ulrike die Schwester der Frau von Goethe einen Kuß aus und ich machte es ebenso. Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des Werther einen Kuß und jeden Nachmittag vom Vater und Freund Goethe zwei Küsse. Bedenkt! [...] Alle Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor, und dann pflegt er sich neben mich zu setzen und wenn ich fertig bin, (ich fantasire gewöhnlich), so bitte ich mir einen Kuß aus, oder nehme mir einen. Von seiner Güte und Freundlichkeit macht Ihr Euch gar keinen Begriff, ebenso von dem Reichthum, den der Polarstern der Poeten an Mineralien, Büsten, Kupferstichen, kleinen Statuen, großen Handzeichnungen usw. usw. hat. [...] Einen ungeheuren Klang der Stimme hat er und schreien kann er wie 10 000 Streiter.
Felix Mendelssohn-Bartholdy (12) an seine Familie
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Angela Hopf, Andreas Hopf (Geliebte Eltern. Kinderbriefe aus sechs Jahrhunderten)