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Nimm an, du sitzest in einer Hochalpenlandschaft auf einer Bank am Wege. Rings um dich her Grashalden, mit Felsblöcken durchsprengt, am Talhang gegenüber ein Geröllfeld mit niedrigem Erlengestrüpp. Steil geböschtes Waldgebirge zu beiden Seiten des Tals bis hoch hinauf an die baumlosen Almmatten; und vor dir vom Talgrund aufsteigend der gewaltige firngekrönte Hochgipfel, dessen weiche Schneelenden und scharfkantige Felsgrate jetzt eben der letzte Strahl der scheidenden Sonne in zartestes Rosenrot taucht, wundervoll abgehoben von dem durchsichtig klaren, blaßblauen Firmament.
All das, was dein Auge sieht, ist - nach der bei uns gewöhnlichen Auffassung - mit geringen Veränderungen Jahrtausende lang v o r dir dagewesen. Über ein Weilchen — nicht lange — wirst du nicht mehr sein, und Wald, Fels und Himmel werden Jahrtausende n a c h dir noch unverändert dastehen.
Was ist's, das dich so plötzlich aus dem Nichts hervorgerufen, um dieses Schauspiel, das deiner nicht achtet, ein Weilchen zu genießen? Alle Bedingungen für dein Sein sind fast so alt wie der Fels. Jahrtausende lang haben Männer gestrebt, gelitten und gezeugt, haben Weiber unter Schmerzen geboren. Vor hundert Jahren vielleicht saß ein anderer an dieser Stelle, blickte gleich dir, Andacht und Wehmut im Herzen, auf zu den verglühenden Firnen. Er war vom Mann gezeugt, vom Weib geboren gleich dir. Er fühlte Schmerz und kurze Freude wie du. W a r es ein anderer? Warst du es nicht selbst? Was ist dies dein Selbst? Welche Bedingung mußte hinzutreten, damit dies Erzeugte du wurdest, gerade du, und nicht — ein anderer? Welchen klar faßbaren, n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Sinn soll denn dieses „ein anderer“ eigentlich haben? Hätte sie, die jetzt deine Mutter ist, einem anderen beigewohnt und mit ihm einen Sohn gezeugt, und dein Vater desgleichen, wärest d u geworden? Oder lebtest du in ihnen, in deines Vaters Vater... schon seit Jahrtausenden? Und wenn auch dies, warum bist du nicht dein Bruder, dein Bruder nicht du, warum nicht einer deiner entfernten Vettern? Was läßt dich einen so eigensinnigen Unterschied entdecken — den Unterschied zwischen dir und einem anderen —, wo objektiv d a s s e l b e vorliegt?
Unter solchem Anschaun und Denken kann es geschehn, daß urplötzlich die tiefe Berechtigung jener vedântischen Grundüberzeugung aufleuchtet: unmöglich kann die Einheit, dieses Erkennen, Fühlen und Wollen, das du das d e i n e nennst, vor nicht allzulanger Zeit in einem angebbaren Augenblick aus dem Nichts entsprungen sein; vielmehr ist dieses Erkennen, Fühlen und Wollen wesentlich ewig und unveränderlich und ist numerisch nur e i n e s in allen Menschen, ja in allen fühlenden Wesen. Aber auch nicht s o, daß du ein Teil, ein Stück bist von einem ewigen, unendlichen Wesen, eine Seite, eine Modifikation davon, wie es der Pantheismus des Spinoza will. Denn das bliebe dieselbe Unbegreiflichkeit: Welcher Teil, welche Seite bist gerade d u, was unterscheidet, objektiv, sie von den anderen? Nein, sondern so unbegreiflich es der gemeinen Vernunft scheint: du — und ebenso jedes andere bewußte Wesen für sich genommen — bist alles in allem. Darum ist dieses dein Leben, das du lebst, auch nicht ein Stück nur des Weltgeschehens, sondern in einem bestimmten Sinn das g a n z e. Nur ist dieses Ganze nicht so beschaffen, daß es sich mit e i n e m Blick überschauen läßt. — Das ist es bekanntlich, was die Brahmanen ausdrücken mit der heiligen, mystischen und doch eigentlich so einfachen und klaren Formel Tat twam asi (das bist du). — Oder auch mit Worten wie: Ich bin im Osten und im Westen, bin unten und bin oben, i c h b i n d i e s e g a n z e W e l t.
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