Zwei An Einem Tag Quotes

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Aber in Venedig bekam das bloße Wort plötzlich für mich einen sinnlichen Inhalt. Ich kam von Mailand nachmittags in die geliebte Lagunenstadt. Kein Träger war zur Stelle, keine Gondel, müßig standen Arbeiter und Bahnbeamte herum, die Hände demonstrativ in den Taschen. Da ich zwei ziemlich schwere Koffer mit mir schleppte, blickte ich hilfesuchend um mich und fragte einen älteren Herrn, wo hier Träger zu finden seien. »Sie sind an einem schlechten Tag gekommen«, antwortete er bedauernd. »Aber wir haben jetzt oft solche Tage. Es ist wieder einmal Generalstreik.« Ich wußte nicht, warum Streik war, und fragte nicht weiter danach. Wir waren derlei von Österreich zu gewohnt, wo die Sozialdemokraten sehr zu ihrem Verhängnis allzuoft dieses ihr schärfstes Mittel einsetzten, ohne es dann faktisch auszuwerten. Ich schleppte also mühselig meine Koffer weiter, bis ich endlich aus einem Seitenkanal einen Gondoliere mir hastig und verstohlen zuwinken sah, der dann mich und die beiden Koffer aufnahm. In einer halben Stunde waren wir, an einigen gegen den Streikbrecher geballten Fäusten vorbeisteuernd, im Hotel. Mit der Selbstverständlichkeit einer alten Gewohnheit ging ich sofort auf den Markusplatz. Er sah auffallend verlassen aus. Die Läden der meisten Geschäfte waren herabgelassen, niemand saß in den Cafés, nur eine große Menge von Arbeitern stand in einzelnen Gruppen unter den Arkaden wie Menschen, die auf irgend etwas Besonderes warten. Ich wartete mit ihnen. Und dann kam es plötzlich. Aus einer Seitengasse marschierte oder eigentlich lief in hastigem Gleichschritt eine Gruppe junger Leute, gut geordnet, die in geübtem Takt ein Lied sangen, dessen Text ich nicht kannte – später wußte ich, daß es die ›Giovinezza‹ war. Und schon waren sie, Stöcke schwingend, in ihrem Laufschritt vorbei, ehe die hundertfach überlegene Masse Zeit gehabt hatte, sich auf den Gegner zu stürzen. Der verwegene und wirklich mutige Durchmarsch dieser kleinen organisierten Gruppe war so rasch erfolgt, daß sich die andern der Provokation erst bewußt wurden, als sie ihrer Gegner nicht mehr habhaft werden konnten. Ärgerlich scharten sie sich jetzt zusammen und ballten die Fäuste, aber es war zu spät. Der kleine Sturmtrupp war nicht mehr einzuholen. Immer haben optische Eindrücke etwas Überzeugendes. Zum erstenmal wußte ich jetzt, daß dieser sagenhafte, mir kaum bekannte Faschismus etwas Reales sei, etwas sehr gut Geleitetes, und daß er entschlossene, kühne junge Menschen für sich fanatisierte. Ich konnte meinen älteren Freunden in Florenz und Rom seitdem nicht mehr beipflichten, die mit einem verächtlichen Achselzucken diese jungen Menschen als eine ›gemietete Bande‹ abtaten und ihren ›Fra Diavolo‹ verspotteten. Aus Neugier kaufte ich mir einige Nummern des ›Popolo d'Italia‹ und spürte an dem scharfen, lateinisch knappen, plastischen Stil Mussolinis die gleiche Entschlossenheit wie bei dem Sturmlauf jener jungen Leute über den Markusplatz. Selbstverständlich konnte ich die Dimensionen nicht ahnen, die dieser Kampf schon ein Jahr später annehmen sollte. Aber daß ein Kampf hier und überall bevorstand und daß unser Friede nicht der Friede war, war mir von dieser Stunde bewußt.
Stefan Zweig (The World of Yesterday)