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Sie sind überall, meine ich, neben mir, über mir, unter mir, ich höre sie im Bad, sehe sie auf dem Balkon, spüre sie im Schlafzimmer, sie kommen in den Flur oder laufen die Treppen runter oder hocken im Keller und schauen mich an. Es sind mir zu viele, ich kann sie nicht vertragen, nicht anschauen, ohne sie würde ich anders, ganz anders leben. Ohne sie würde ich laute, dunkle Musik bei offenen Fenstern hören, vor Glück weinen, mich von allen Seiten tätowieren lassen, die Augen schwarz malen, so den Müll rausbringen; vom Hof würde ich mir obdachlose Katzen nach Hause holen, die sich als tollwütig herausstellen, die Wände ankreischen, ihre Geschäfte im öffentlichen Flur verrichten; ich würde Gäste zu mir einladen, wie würden wir tanzen, nächtelang durch, in weiten samtenen Kleidern. Ohne sie würde ich nachts in den Wald gehen, der vom Balkon aus zu sehen ist, dort einen Wolf einfangen, zu mir nach Hause bringen, er würde mir die Hände ablecken, wenn ich ihm Fleischstücke bringe, mich aus jedem Zimmer beobachten, in meinem Bett an meiner Seite schlafen. Ohne sie würde ich aufhören, die Treppen zu wischen, die Fenster zu polieren, an den Wänden zurückzuklopfen, würde Riesenbambus auf den Fensterbänken züchten, alle Höflichkeitsformeln vergessen, Unfall- und Stolpergefahren verursachen, meine Schuhe vor der Tür stehen lassen.
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Slata Roschal (153 Formen des Nichtseins: Roman. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022 (German Edition))